Folgeerscheinungen Hormonspirale

Mirena Spirale Spätfolgen -Hormonspirale Erfahrungen

Vampir im Bauch

Im Nachfolgenden findet ihr den Artikel "Vampir im Bauch" von Veronika Hackenbroch (Spiegel Wissenschaft 23/2017)

Hormonspiralen sind für den Pharmakonzern Bayer ein Milliardengeschäft. Doch sie stehen im Verdacht, Frauen krank zu machen. Verharmlost der Hersteller das Risiko und es ist sogar mit Spätfolgen zu rechnen?

Panikattacken, Ängste und Depressionen als Folgeerscheinung durch Hormonspirale


Lena Freimüllers erster Sohn war noch klein, zweieinhalb, als die Zwillinge zur Welt kamen. Sie erwartete nicht, dass ihr Leben ein sonderlich ruhiges werden würde. Entsprechend fand Freimüller nichts dabei, ein weiteres Jahr später wieder arbeiten zu gehen: als Lehrerin an einer Grundschule. Nur, dass sie jetzt immer dünnhäutiger wurde. Kleinigkeiten reichten aus, ihre Wut zu entzünden.

Es folgten Phasen der Niedergeschlagenheit, der tiefen Erschöpfung. „Ich war Mitte dreißig, aber ich fühlte mich doppelt so alt“, erzählt Freimüller, die eigentlich anders heißt. „Ich hatte oft das Gefühl: Wenn ich mich jetzt hinsetze, dann kann ich nicht mehr aufstehen.“ Was stimmte nicht mit ihr? „Im Traum nicht“ sei sie darauf gekommen, sagt sie heute, dass es möglicherweise jenes ungefähr drei Zentimeter lange Kunststoffteil in Ankerform sein könnte, das ihr das Leben so schwer machte: die Hormonspirale Mirena, die in ihrer Gebärmutter saß und aus einem winzigen Reservoir peu à peu das Hormon Levonorgestrel in ihren Körper entließ, um eine Schwangerschaft zu verhindern.

Ihre Frauenärztin hatte geschwärmt, als sie ihr die Spirale einsetzte: von deren guter Verträglichkeit, alle Frauen seien sehr zufrieden, man müsse sich um nichts mehr kümmern. „Als ich der Frauenärztin später von meiner Erschöpfung und den Stimmungsschwankungen erzählt habe, verschrieb sie mir ein Vitaminpräparat“, erzählt Freimüller. Die Spirale blieb drin. Nachdem ihr die Folgespirale eingesetzt worden war, konnte Freimüller kaum noch einschlafen. Gelang es ihr irgendwann doch, schreckte sie nachts wieder hoch, lag stundenlang wach, schweißüberströmt. Tagsüber war sie unruhig, immerzu, jahrelang.

Als sie die Spirale das siebte Jahr trug, bekam Freimüller Panikattacken, ihr Herz raste, mit Todesangst fuhr sie in die Notaufnahme, mehrmals. Doch die Ärzte konnten nie etwas feststellen. Im Sommer 2015 erlitt sie dann einen „Totalzusammenbruch“, wie sie selbst es nennt. Psychiater verschrieben Antidepressiva.

Besserung nach Entfernung der Hormonspirale


Schließlich, Ende 2016, nach mehr als acht Jahren Leiden, habe sie eine Art „Eingebung“ gehabt, sagt Freimüller. Sie forschte im Internet und fand auf Anhieb eine Vielzahl ihrer Symptome. Seitdem sie sich die Hormonspirale ziehen ließ, geht es ihr mit jedem Tag besser.

Die Panikattacken: verschwunden. Die Nervosität: als wäre sie nie da gewesen. Nach der Arbeit geht sie entspannt nach Hause und freut sich auf ihre Familie. Tatsächlich deutet einiges darauf hin, dass Hormonspiralen häufiger psychische Nebenwirkungen verursachen als oft behauptet, und zwar nicht nur eine Depression und depressive Stimmung, die als häufige Nebenwirkungen (1 bis 10 Frauen von 100 betreffend) im Beipackzettel stehen, sondern, so wie bei Lena Freimüller, eine ganze Bandbreite seelischer Beschwerden. Deshalb stehen alle Hormonspiralen, die Levonorgestrel enthalten auf dem Prüfstand. Bayer sagte auf SPIEGEL Anfrage, es gebe nach allen der Firma vorliegenden Daten „keinen Anhaltspunkt, dass es zwischen der Verwendung von levonorgestrelhaltigen Intrauterinsystemen und der Entwicklung von schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankungen einen Zusammenhang gibt“.

Neue Entdeckung des Wirkmechanismus des Levonorgestrels


Inzwischen glauben Wissenschaftler zu verstehen, auf welche Weise Levonorgestrel psychische Beschwerden auslösen könnte. Ein Vorreiter auf diesem Gebiet ist Steven Kushner, Professor für neurobiologische Psychiatrie am Erasmus University Medical Center in Rotterdam; seine Entdeckung wurde Ende Februar in der Fachzeitschrift „Psychoneuroendocrinology“ veröffentlicht. „Ursprünglich wollten wir etwas ganz anderes untersuchen“, sagt Kushner. Doch während eines Experiments, in dem Probanden sozialem Stress ausgesetzt waren, wurde klar, dass einige Teilnehmerinnen deutlich größere Mengen des Stresshormons Kortisol ausschütteten als die anderen; auch ihre Herzfrequenz stieg deutlich stärker. Nachforschungen ergaben: Die meisten dieser Teilnehmerinnen trugen eine levonorgestrelhaltige Hormonspirale.

Ein anderer Test, den Kushners Team daraufhin durchführte, konnte einen Hinweis auf den Wirkmechanismus des Levonorgestrels liefern: Möglicherweise setzt das Hormon im Gehirn eine Kaskade in Gang, die am Ende in den Nebennierenrinden eine erhöhte Kortisolausschüttung zur Folge hat. Später kam heraus: Auch in den Haaren von Hormonspiralenträgerinnen finden sich auffällig hohe Kortisolwerte – ein Hinweis darauf, dass diese Frauen im Alltag auf Stresssituationen besonders stark reagieren. Chronischer Stress gilt als wichtiger Risikofaktor für viele der befürchteten psychischen Nebenwirkungen der Hormonspiralen, darunter Depressionen, Ängste, Panikattacken und Schlafstörungen.
Hormonspirale wirkt nicht nur lokal
„Auf jeden Fall zeigen unsere Experimente klar, dass levonorgestrelhaltige Hormonspiralen nicht nur lokal in der Gebärmutter wirken“, sagt Kushner. In der Mirena-Broschüre von Bayer, „Kopf frei für die Liebe“, ist hingegen an vielen Stellen von einer lokalen Freisetzung und Wirkung des Hormons die Rede, auch wenn Bayer „lokal“ vorsorglich in Anführungszeichen gesetzt hat. Dies diene, so Bayer auf Anfrage des SPIEGEL, der „einfachen Darstellung“ und „Betonung des Wirkmechanismus“. Den Vorwurf einer bewussten Irreführung weist Bayer zurück. „Diese Broschüre“, schimpft hingegen Beate K., „ist Frauenverarschung.“ K., promovierte Apothekerin, bekam 1999 ihre erste Hormonspirale gelegt. Ihre Frauenärztin pries damals die angeblich rein örtliche Wirkung des Verhütungsmittels. K. hatte vor 1999, während sie die Pille nahm, unter Depressionen und starken Stimmungsschwankungen gelitten. Mirena könnte bei solcher Vorbelastung anfälliger für einen Rückfall machen; das steht so im Beipackzettel – in Kanada. Die Entfernung der Hormonspirale müsse dann erwogen werden, da diese die Ursache für die Verschlimmerung sein könne.

Im deutschen Beipackzettel steht davon nichts. Aufgrund lokaler Behördenpositionen könnten die Inhalte der nationalen Produktinformationen variieren, erklärt Bayer dazu. Den deutschen Frauen würden keine wichtigen Informationen vorenthalten. Doch K., obwohl selbst Fachfrau, blieb ahnungslos. Ihre Ärztin offenbar auch: 2005 und 2011 setzte sie K. Mirena Nummer zwei und drei ein. Immer tiefer rutschte K. in die Depression, Konzentrationsstörungen kamen hinzu, außerdem eine soziale Phobie. 2008 wurde K. berufsunfähig. „Ich habe nie verstanden, warum es mir so schlecht ging“, erzählt sie.

Nach 16 Jahren, da war sie 53, fragte sich K. schließlich, ob sie überhaupt noch verhüten müsse. Am 4. Oktober 2015, dieses Datum wird sie nie vergessen, setzte sie sich an ihren Computer und googelte „Mirena“ und „Nebenwirkungen“. Am 5. Oktober war sie die Spirale los. „Das war der beste Tag in meinem Leben!“, sagt K. „Ich bin bei der Frauenärztin zur Tür rausgegangen, und ich hatte das Gefühl, dass die Sonne aufgeht. Dass die Welt mir offensteht.“
Depressionen als häufige Nebenwirkung neu im Beipackzettel aufgeführt
Die Hormonspirale sei „wie ein kleiner eingebauter Vampir“ gewesen, der ihr alle Kraft raubte. Ob Jaydess und Kyleena, weil sie weniger Levonorgestrel enthalten als Mirena, auch schwächer auf die Psyche wirken, ist fraglich. Auch in den Beipackzetteln von Jaydess und Kyleena sind depressive Stimmung und Depression als häufige Nebenwirkungen aufgeführt. In einer Jaydess Studie beging eine 20-Jährige, die zuvor nicht an Depressionen gelitten hatte, Selbstmord. „Bis zum Beweis des Gegenteils“, sagt Stressforscher Kushner, „muss man die Sorge haben, dass Jaydess und Kyleena ebenfalls die Stressreaktion beeinflussen könnten.“

„Frauen, die verhüten, müssen besser geschützt werden“, sagt Kathrin Vogler, gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag. „Deshalb muss Werbematerial der Pharmaindustrie in Arztpraxen verboten werden.“ Beate K.s Depressionen sind zwar nicht vollständig verschwunden, und sie weiß auch nicht, ob sie noch einmal ganz die Alte werden wird. Aber so, wie es sich jetzt anfühlt, kann sie damit leben. Und kämpfen. Bei der Bayer Hauptversammlung Ende April hielt sie, der einst eine soziale Phobie attestiert wurde, eine Rede, in der sie dem versammelten Bayer-Vorstand höchst unangenehme Fragen stellte. „Ich wollte ein Zeichen setzen“, sagt K., sie verhehlt ihren Stolz nicht. „So geht man nicht mit Frauen um! So nicht!“

Quelle: Veronika Hackenbroch - Spiegel Ausgabe 23/2017