Neue Entdeckung des Wirkmechanismus des Levonorgestrels
Inzwischen glauben Wissenschaftler zu verstehen, auf welche Weise Levonorgestrel psychische Beschwerden auslösen könnte. Ein Vorreiter auf diesem Gebiet ist
Steven Kushner, Professor für neurobiologische Psychiatrie am Erasmus University Medical Center in Rotterdam; seine Entdeckung wurde Ende Februar in der Fachzeitschrift „Psychoneuroendocrinology“ veröffentlicht.
„Ursprünglich wollten wir etwas ganz anderes untersuchen“, sagt Kushner. Doch während eines Experiments, in dem Probanden sozialem Stress ausgesetzt waren, wurde klar, dass einige Teilnehmerinnen
deutlich größere Mengen des Stresshormons Kortisol ausschütteten als die anderen; auch ihre Herzfrequenz stieg deutlich stärker. Nachforschungen ergaben: Die meisten dieser Teilnehmerinnen trugen eine levonorgestrelhaltige Hormonspirale.
Ein anderer Test, den Kushners Team daraufhin durchführte, konnte einen Hinweis auf den Wirkmechanismus des Levonorgestrels liefern: Möglicherweise setzt das Hormon im Gehirn eine Kaskade in Gang, die am Ende in den Nebennierenrinden eine erhöhte Kortisolausschüttung zur Folge hat.
Später kam heraus: Auch in den Haaren von
Hormonspiralenträgerinnen finden sich auffällig hohe Kortisolwerte – ein Hinweis darauf, dass diese Frauen im Alltag auf Stresssituationen besonders stark reagieren. Chronischer Stress gilt als wichtiger Risikofaktor für viele der befürchteten psychischen Nebenwirkungen der Hormonspiralen, darunter Depressionen, Ängste, Panikattacken und Schlafstörungen.
Hormonspirale wirkt nicht nur lokal
„Auf jeden Fall zeigen unsere Experimente klar, dass levonorgestrelhaltige Hormonspiralen nicht nur lokal in der Gebärmutter wirken“, sagt Kushner. In der Mirena-Broschüre von Bayer, „Kopf frei für die Liebe“, ist hingegen an vielen Stellen von einer lokalen Freisetzung und Wirkung des Hormons die Rede, auch wenn Bayer „lokal“ vorsorglich in Anführungszeichen gesetzt hat. Dies diene, so Bayer auf Anfrage des SPIEGEL, der „einfachen Darstellung“ und „Betonung des Wirkmechanismus“. Den Vorwurf einer bewussten Irreführung weist Bayer zurück.
„Diese Broschüre“, schimpft hingegen Beate K., „ist Frauenverarschung.“ K., promovierte Apothekerin, bekam 1999 ihre erste Hormonspirale gelegt. Ihre Frauenärztin pries damals die angeblich rein örtliche Wirkung des Verhütungsmittels.
K. hatte vor 1999, während sie die Pille nahm, unter Depressionen und starken Stimmungsschwankungen gelitten. Mirena könnte bei solcher Vorbelastung anfälliger für einen Rückfall machen; das steht so im Beipackzettel – in Kanada. Die Entfernung der Hormonspirale müsse dann erwogen werden, da diese die Ursache für die Verschlimmerung sein könne.
Im deutschen Beipackzettel steht davon nichts. Aufgrund lokaler Behördenpositionen könnten die Inhalte der nationalen Produktinformationen variieren, erklärt Bayer dazu. Den deutschen Frauen würden keine wichtigen Informationen vorenthalten.
Doch K., obwohl selbst Fachfrau, blieb ahnungslos. Ihre Ärztin offenbar auch: 2005 und 2011 setzte sie K. Mirena Nummer zwei und drei ein. Immer tiefer rutschte K. in die Depression, Konzentrationsstörungen kamen hinzu, außerdem eine soziale Phobie. 2008 wurde K. berufsunfähig. „Ich habe nie verstanden, warum es mir so schlecht ging“, erzählt sie.
Nach 16 Jahren, da war sie 53, fragte sich K. schließlich, ob sie überhaupt noch verhüten müsse. Am 4. Oktober 2015, dieses Datum wird sie nie vergessen, setzte sie sich an ihren Computer und googelte „Mirena“ und „Nebenwirkungen“. Am 5. Oktober war sie die Spirale los.
„Das war der beste Tag in meinem Leben!“, sagt K. „Ich bin bei der Frauenärztin zur Tür rausgegangen, und ich hatte das Gefühl, dass die Sonne aufgeht. Dass die Welt mir offensteht.“
Depressionen als häufige Nebenwirkung neu im Beipackzettel aufgeführt
Die Hormonspirale sei „wie ein kleiner eingebauter Vampir“ gewesen, der ihr alle Kraft raubte. Ob Jaydess und Kyleena, weil sie weniger Levonorgestrel enthalten als Mirena, auch schwächer auf die Psyche wirken, ist fraglich. Auch in den Beipackzetteln von Jaydess und Kyleena sind depressive Stimmung und Depression als häufige Nebenwirkungen aufgeführt. In einer Jaydess Studie beging eine 20-Jährige, die zuvor nicht an Depressionen gelitten hatte, Selbstmord. „Bis zum Beweis des Gegenteils“, sagt Stressforscher Kushner, „muss man die Sorge haben, dass Jaydess und Kyleena ebenfalls die Stressreaktion beeinflussen könnten.“
„Frauen, die verhüten, müssen besser geschützt werden“, sagt Kathrin Vogler, gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag. „Deshalb muss Werbematerial der Pharmaindustrie in Arztpraxen verboten werden.“
Beate K.s Depressionen sind zwar nicht vollständig verschwunden, und sie weiß auch nicht, ob sie noch einmal ganz die Alte werden wird. Aber so, wie es sich jetzt anfühlt, kann sie damit leben. Und kämpfen.
Bei der Bayer Hauptversammlung Ende April hielt sie, der einst eine soziale Phobie attestiert wurde, eine Rede, in der sie dem versammelten Bayer-Vorstand höchst unangenehme Fragen stellte. „Ich wollte ein Zeichen setzen“, sagt K., sie verhehlt ihren Stolz nicht. „So geht man nicht mit Frauen um! So nicht!“
Quelle: Veronika Hackenbroch - Spiegel Ausgabe 23/2017